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Herr Müller, 66 Jahre alt, leidet seit mehreren Jahren an Vorhofflimmern (VHF). Seine Medikation enthält u. a. Rivaroxaban 20 mg 1mal/Tag.
In den letzten Wochen fühlte sich Herr Müller niedergeschlagen, hatte wenig Interesse an seinen üblichen Aktivitäten und litt unter Schlafstörungen. Aufgrund dieser Symptome beschloss er, auf eigene Faust ein pflanzliches Mittel einzunehmen, das er in einer Zeitschrift gesehen hatte. Seine Tochter bestellt ihm das Produkt bei einer Online-Apotheke.
Drei Wochen später kommt der Patient zur jährlichen Routineuntersuchung in Ihre Praxis und zeigt Ihnen die Schachtel eines Johanniskrautpräparates.
Was könnte passieren?
Johanniskraut, ein vermeintlich harmloses pflanzliches Produkt, das auch im Drogeriemarkt ohne fachliche Beratung erhältlich ist, wird von Patienten oft nicht als „richtiges“ Arzneimittel wahrgenommen. Es handelt sich jedoch um ein Medikament mit hohem Interaktionspotenzial.
In dem Arzneimittel, das Herr Müller einnimmt, ist Johanniskraut als Extrakt enthalten. Dieser Extrakt besteht aus einem komplexen Gemisch einzelner Inhaltsstoffe, darunter z. B. Hyperforin und Hypericin. Eine vollständige Aufschlüsselung aller wirksamkeitsbestimmenden Substanzen von Johanniskraut steht bis dato noch aus.4,7 Allerdings ist die Bedeutung von Hyperforin für Wirkung und potenzielle Wechselwirkungen bekannt.4 Daher wird dieser spezifische Inhaltsstoff u. a. als Bezugspunkt für die Klassifizierung des Vertriebsstatus herangezogen (vgl. Anlage 1 AMVV und Anlage 1b AMVerkRV):
Wesentlichen Einfluss auf andere Arzneimittel hat Hyperforin erst ab einer Einnahme von mehr als 1 mg/Tag. Bei geringeren Tagesdosen und einer Anwendung von weniger als 2 Wochen, werden keine klinisch relevanten Wechselwirkungen erwartet.6 Das Arzneimittel von Herrn Müller ist apothekenpflichtig und enthält pro Tablette 900 mg Johanniskrautextrakt und über 1 mg Hyperforin – mit einer Wechselwirkung muss also gerechnet werden:
Durch die gleichzeitige Einnahme der Medikamente kommt es zu einem Abfall des Wirkstoffspiegels von Rivaroxaban, was zu einer verminderten Wirkung und im schlimmsten Fall zu einem thromboembolischen Ereignis führen kann.1 Dieser Effekt kommt durch eine pharmakokinetische Wechselwirkung zustande. Johanniskraut ist sowohl ein potenter Induktor des Enzyms CYP3A4 als auch des Transportproteins p-Glykoprotein und führt so zu einem verringerten Wirkstoffspiegel von Rivaroxaban.1,2,4 In pharmakokinetischen Studien an gesunden Freiwilligen wurde nachgewiesen, dass die Plasmakonzentration von Rivaroxaban bei gleichzeitiger Gabe von Johanniskrautextrakt (900 mg/Tag) über 12 bis 14 Tage abnimmt, was mit einer reduzierten Faktor-Xa-Hemmung einherging.3,5
Wie lässt sich das Problem vermeiden?
Gemäß den Empfehlungen der European Society of Cardiology ist bei Vorhofflimmern die gemeinsame Anwendung von Johanniskraut und direkten oralen Antikoagulantien (DOAK) wie Rivaroxaban aufgrund der reduzierten Plasmaspiegel grundsätzlich als kontraindiziert bzw. nicht ratsam zu betrachten.1
Liegt eine depressive Störung vor, soll bei leichtgradigen Formen zunächst mit niedrigintensiven Interventionen (z. B. angeleitete Selbsthilfe, hausärztliche (psychosomatische) Grundversorgung oder Internet - und mobilbasierten Angebote) begonnen werden. Erst wenn diese Maßnahmen erfolglos bleiben, oder bei rezidivierender / anhaltender Symptomatik ist ein Antidepressivum zu erwägen.4
Bei der Auswahl des Antidepressivums sollte u. a. auf das Nebenwirkungsprofil sowie Komorbiditäten und entsprechende Komedikationen geachtet werden.4 Bei Herrn Müller ist sowohl das Blutungsrisiko als auch das kardiovaskuläre Risikoprofil zu berücksichtigen.
Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) wie Citalopram, Fluoxetin oder Paroxetin erhöhen das Risiko gastrointestinaler und auch intrakranieller Blutungen.8-10,12 Bei Patienten mit Vorhofflimmern unter einer DOAK-Therapie war das Blutungsrisiko durch eine Kombination mit SSRI fast doppelt so hoch (aOR 1.92; 95 % CI 1.52–2.42) wie bei Einnahme eines DOAK alleine.9 Ist eine gemeinsame Gabe erforderlich oder stellt nach eingehender Nutzen-/Risikobewertung die günstigste Alternative dar, kann durch Verordnung eines Protonenpumpeninhibitors das Risiko für gastrointestinalen Blutungen verringert werden.9,15 Trizyklische Antidepressiva (z. B. Amitriptylin, Trimipramin, Doxepin) zeigen zwar ein geringes Blutungsrisiko im Vergleich zu SSRI, sind jedoch aufgrund ihres kardiovaskulären Risikopotenzials bei bestehenden Herzerkrankungen zu vermeiden.8,12 Außerdem gelten sie für ältere Patienten als potentiell ungeeignet.17,19
Mirtazapin oder Opipramol als sedierende und Bupropion als nicht-sedierende Substanzen können für Patienten mit Blutungsrisiko eine Alternative darstellen. Da sie eine geringere Wirkung auf die Serotonintransporter haben, soll folglich auch das Blutungsrisiko geringer sein.11,13,18 Eine aktuelle Studie bestätigt diese Annahme für Mirtazapin.16 Die Evidenz dieser Wirkstoffempfehlungen ist jedoch laut einer systematischen Übersichtsarbeit zumindest fraglich. Die gepoolten Ergebnisse zeigten keine Überlegenheit von Mirtazapin oder Bupropion gegenüber SSRI bezüglich Blutungsereignissen.14 Eine weitere Studie zeigte sogar ein signifikant erhöhtes Risiko für die Kombination aus Bupropion und DOAK.8 Die Überwachung auf Blutungsanzeichen bleibt empfehlenswert.8,14 Zudem gelten auch diese Wirkstoffe (Opipramol, Bupropion, weniger Mirtazapin) für ältere Patienten als potentiell ungeeignet.17,19
Eine Aufklärung von Patienten mit erhöhtem Blutungsrisiko zu möglichen Wechselwirkungen ist wichtig, da viele potenzielle Interaktionspartner auch ohne Rezept in Apotheken oder Drogerien bezogen oder von anderen Ärzten unkritisch verordnet werden können.
Fazit:
Grundsätzlich empfiehlt es sich, Patienten zu ermutigen, von jeder neuen Medikamenteneinnahme, insbesondere auch von rezeptfreien Präparaten zu berichten. Die Wahl einer Stammapotheke sowie ein aktueller Medikationsplan für den Patienten kann zusätzlich dazu beitragen, Risiken zu minimieren.
Bezüglich der Behandlung einer depressiven Episode gilt Folgendes:
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Abkürzungsverzeichnis:
AMVV Arzneimittelverschreibungsverordnung
AMVerkRV Verordnung über apothekenpflichtige und freiverkäufliche Arzneimittel
Quellen:
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[2] Veröffentlichung AkdÄ Leitfaden „Orale Antikoagulation bei nicht valvulärem Vorhofflimmern“, 3. Auflage November 2019
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[4] Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression; Version 3.1 2022, AWMF-Register-Nr. nvl-005
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