Arzneimittel­therapie­sicherheit: Hätten Sie es gewusst?

Hätten Sie es gewusst?

Frau Schneider (74 Jahre) kommt in ihre Hausarztpraxis. Aufgrund einer akuten Verschlimmerung ihrer chronischen Bronchitis mit bakterieller Infektion verordnen Sie ihr Clarithromycin 500 mg (1-0-1) über 7 Tage. Als Dauermedikation nimmt ihre Patientin u. a. L-Thyroxin 75 µg (1-0-0) und Ramipril / Amlodipin 10 mg / 10 mg (1-0-0) ein. Zudem ist Ihnen bekannt, dass sich die Patientin häufig Diphenhydramin Tabletten in der Apotheke wegen ihrer Schlafprobleme holt.

 

Was könnte hier passieren?

 

Clarithromycin und Diphenhydramin sind beides Medikamente, welche die Repolarisationszeit von Herzmuskelzellen verlängern bzw. eine solche Verlängerung begünstigen, was zu erheblichen Herzrhythmusstörungen, sog. Torsade de Pointes (TdP) und plötzlichem Herztod führen kann.

Das QT-Intervall stellt im Elektrokardiogramm (EKG) das Maß für die Dauer ventrikulärer Repolarisation dar. Eine Verlängerung der QT-Zeit kann, abhängig von ihrem Ausmaß, zu TdP-Arrhythmien führen.1,2 Man kann davon ausgehen, dass mit jeder Erhöhung der QT-Zeit um 10 ms auch das Risiko für TdP um etwa 5 bis 7 % steigt. Die Inzidenz von TdP ist zwar niedrig – schätzungsweise 3,2 bis 160 Fällen pro 1 Million Menschen – allerdings liegt die Mortalität bei ca. 10 – 20 %.3 Trotz der Seltenheit sollte insbesondere für Patienten mit Risikofaktoren, das ernstzunehmende gesundheitliche Risiko dieser Rhythmusstörung berücksichtigt werden.

Ein verlängertes QT-Intervall kann angeboren (z. B. kongenitales Long-QT-Syndrom) oder z. B. durch Medikamente und Elektrolytungleichgewichte erworben sein.2 Genau definierte Grenzwerte einer verlängerten QT-Zeit existieren nicht; die Werte variieren je nach Quelle: Von einer verlängerten QTc-Zeit (korrigierte QT-Zeit) wird bei Männern ab 450—470 ms bzw. bei Frauen ab 460—480 ms gesprochen.2,5 Sicher ist, dass ab einer QTc von > 500 ms bzw. bei einer Verlängerung der QTc-Zeit durch Arzneimittel um > 60–70 ms ein erhöhtes Risiko für TdP besteht.2,7

Bei Patienten, die eine ausgeprägte QT-Verlängerung entwickeln, ist dies selten allein auf die Einnahme eines Medikaments zurückzuführen. Vielmehr handelt es sich um ein komplexes Problem, das von verschiedenen Risikofaktoren maßgeblich beeinflusst wird. Die meisten Fälle von arzneimittelbedingter QT-Verlängerung treten auf, wenn weitere Risikofaktoren bestehen, in mehr als 70 % der Fälle bei Vorhandensein von zwei oder mehr Risikofaktoren.5,6,9 Zudem sollte eine besondere Aufmerksamkeit auf Arzneimittelinteraktionen liegen. Die Einnahme mehrerer QT-verlängernder Arzneimittel kann synergistisch wirken (pharmakodynamische Interaktion). Dieser Synergismus ist jedoch nicht einfach kumulativ, sondern hängt wesentlich von der konkreten Konstellation der Kombinationspartner ab.6,10 Zusätzlich können (pharmakokinetische) Arzneimittelinteraktionen die Plasmaspiegel von QT-verlängernden Arzneimitteln erhöhen und so das Risiko für TdP-Arrhythmien vergrößern.5,6,9

Frau Schneider ist über 65 Jahre alt, weiblich und leidet an einer Hypertonie – bereits drei Risikofaktoren für eine QT-Verlängerung. Zudem kann durch die Arzneimittel Clarithromycin (bekanntes TdP-Risiko) und Diphenhydramin (TdP unter bestimmten Bedingungen möglich, z. B. Einnahme zusammen mit anderen QT-verlängernden Arzneimitteln) ein kumulativer Effekt auf das QT-Intervall resultieren. Die anderen Wirkstoffe aus ihrer Medikation – Ramipril, Amlodipin und L-Thyroxin – haben keinen Einfluss auf die QT-Zeit und sind nicht mit einem TdP-Risiko assoziiert.4

Weitere besonders schwerwiegende Risikofaktoren für eine QT-Zeit Verlängerung bzw. das Auftreten von TdP-Arrhythmien sind akuter oder kürzlich zurückliegender Herzinfarkt, vorbestehende Herzrhythmusstörungen, Leberversagen und Hypokaliäme. Daneben können auch andere Herzkrankheiten (Herzinsuffizienz, Kardiomyopathie, Klappenerkrankungen), Hypocalcämie, schwere Niereninsuffizienz und Sepsis das Risiko erhöhen.5,6,10

 

Was ist zu tun?

In der DEGAM Leitlinie Multimedikation wird empfohlen, in der Praxissoftware Hinweise bei Patienten mit verlängerter QT-Zeit zu hinterlegen, sobald diese durch EKG, Facharztbericht etc. bekannt geworden sind (z. B. ICD I49.8).7 Eine geeignete Softwarelösung kann bei diesen Patienten vor potenziell QT-verlängernden Arzneimitteln warnen und so eine Verordnung im Vorfeld vermieden werden.

Grundsätzlich sollten vor Therapiebeginn mit potenziell QT-verlängernden Arzneimitteln modifizierbare Risikofaktoren wie z. B. Elektrolytstörungen ausgeglichen werden. Die Kaliumwerte sind dabei im hoch normalen Bereich einzustellen.5,7

In der Praxis ist es sicherlich nicht praktikabel, bei jedem Patienten, der ein QT-verlängerndes Arzneimittel erhalten soll, ein EKG durchzuführen. Eine individuelle Risikoeinschätzung und klinische Beurteilung des Patienten sind deshalb erforderlich – folgende Überlegungen können dabei hilfreich sein:2,5

• Hat der Patient Risikofaktoren für eine QT-Verlängerung?

• Ist das neue Medikament mit dem Risiko einer QT-Verlängerung assoziiert?

• Liegen mögliche Wechselwirkungen mit der Dauermedikation vor?

• Gibt es möglicherweise Alternativen zum angedachten Wirkstoff?

Steht kein alternativer Wirkstoff zur Verfügung, sollte bei Risikopatienten vor Therapiebeginn mit einem QT-verlängernden Arzneimittel und im Steady-State ein EKG durchgeführt werden. Liegt die QTc-Zeit bei mehr als 500 ms oder verlängert sie sich um mindestens 60 ms im Vergleich zu vor Beginn der Therapie, sollte die Dosis des Arzneimittels reduziert, das Medikament abgesetzt oder eine Verschreibung unter engmaschiger kardiologischer Überwachung erfolgen.5,7

Aufgrund der vorliegenden Risikofaktoren entschließen Sie sich, bei Frau Schneider eine EKG-Kontrolle durchzuführen. Es zeigt sich eine unauffällige QTc-Zeit von 420 ms und Sie bleiben bei ihrer ersten Wahl Clarithromycin. Alternativ wäre eine Behandlung mit Doxycyclin, einem Wirkstoff ohne QT-Zeit-verlängerndem Potenzial möglich. Zudem empfehlen Sie ihrer Patientin ein pflanzliches Arzneimittel mit Baldrian und Passionsblume, da Diphenhydramin lt. Priscus-Liste für ältere Patienten eher ungeeignet ist.11 So kann ein weiteres Arzneimittel mit potenziell QT-verlängerndem Effekt und möglichen anticholinergen Nebenwirkungen umgangen werden.

 

Fazit:

Arzneimittel können ebenso wie andere Faktoren die Repolarisationszeit und damit die QTc-Zeit im EKG verlängern, was zu seltenen, aber dafür umso schwerwiegenderen, plötzlich auftretenden Arrhythmien führen kann. Bei Vorliegen von Risikofaktoren und Arzneimittelinteraktionen sollte bei betroffenen Patienten die QTc-Zeit gemessen werden.

 

 

Quellen:

[1] Vandenberk B et al., Which QT Correction Formulae to Use for QT Monitoring? J Am Heart Assoc. 2016 Jun 17;5(6):e003264

[2] Davies RA et al. The 2023 Canadian Cardiovascular Society Clinical Practice Update on Management of the Patient With a Prolonged QT Interval. Can J Cardiol. 2023 Oct;39(10):1285-1301. doi: 10.1016/j.cjca.2023.06.011

[3] Wu Z et al. Drug-induced torsades de pointes: Disproportionality analysis of the United States Food and Drug Administration adverse event reporting system. Front Cardiovasc Med. 2022 Oct 24;9:96633

[4] Woosley RL et al. www.CredibleMeds.org, QTdrugs List, [zugegriffen am 30.01.2024], AZCERT, Inc. 1457 E. Desert Garden Dr., Tucson, AZ  85718

[5] Khatib R et al. Managing drug-induced QT prolongation in clinical practice. Postgrad Med J. 2021 Jul;97(1149):452-458

[6] Meid AD et al. Combinations of QTc-prolonging drugs: towards disentangling pharmacokinetic and pharmacodynamic effects in their potentially additive nature. Ther Adv Psychopharmacol. 2017 Dec;7(12):251-264

[7] S3-Leitlinie Hausärztliche Leitlinie Multimedikation; AWMF-Registernummer: 053 – 043; Version 2.00; 05. Mai 2021

[8] 2022 ESC Guidelines for the management of patients with ventricular arrhythmias and the prevention of sudden cardiac death; European Society of Cardiology; European Heart Journal (2022) 43, 3997–4126

[9] Veröffentlichung Der Arzneimittelbrief: Medikamenten-induzierte abnorme QT-Zeit-Verlängerung und Torsade de Pointes; Jg. 38, S. 49; Ausgabe 07 / 2004

[10] Vandael E et al. A smart algorithm for the prevention and risk management of QTc prolongation based on the optimized RISQ-PATH model. Br J Clin Pharmacol 2018; 84: 2824–35

[11] Mann NK et al. Potentially inadequate medications in the elderly: PRISCUS 2.0 –first update of the PRISCUS list. Dtsch Arztebl Int 2023; 120: 3-10

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